Frau Müller


Es regnet. Die Leute drängen sich unter das kleine Dach der Bushaltestelle. Andere hasten vorbei, auf dem Heimweg von der Arbeit oder auf dem Weg zur Spätschicht.

Als der Bus kommt, drängen sich alle hinein. Alle wollen raus aus der Kälte und der Feuchtigkeit. Das Fahrzeug ist voll, die Menschen sitzen und stehen wie Sardinen eng gedrängt nebeneinander. Die meisten von ihnen starren auf ihre Smartphones, als gäbe es eine unsichtbare Macht, die Ihr Gesichter in die Bildschirme saugt. Wo würde man wohl herauskommen, würde diese Macht siegen? Lautlos huschen Fingerkuppen über die spiegelglatten Flächen der Geräte.

Eine alte Frau will einsteigen, kommt aber mit ihrem Rollator nicht in den Bus. Keiner reagiert, unsichtbare Greifarme klammern sich an Augäpfel und lassen sie nicht abwandern.

Erst als die Frau einen Mann mehrmals anspricht, reagiert er. Der Mann ist vielleicht 20, fast noch ein Junge. Die Behaarung um das Kinn mehr Flaum als Bart. Er nimmt die Kopfhörer aus den Ohren und wirkt etwas verwirrt. Der Übergang von der Traumwelt in die Realität war wohl etwas zu abrupt.

„Junger Mann, können Sie mir bitte mit meinem Rollator helfen?“, wiederholt sie ein wenig genervt.

Der junge Mann regiert jetzt schnell und bietet ihr sogar seinen Platz an. Er hat offenbar sein Versäumnis begriffen und es scheint ihm ein wenig peinlich.

Nach zehn Minuten Fahrt hat sie ihre Endstation erreicht. Diesmal hilft er auch ohne Ihre Aufforderung.

Zu Hause angekommen, stellt Sie ihr Gefährt in den Hausflur und erklimmt langsam mit den Einkäufen in der Hand ihre Wohnung im zweiten Stock. Vor kurzer Zeit war die Treppe noch kein Problem, doch seit ihrem letzten Sturz vor ein paar Wochen scheint ihr der Weg noch immer unglaublich lang. Es war nichts Schlimmes gewesen, sie war beim Duschen ausgerutscht und hatte sich die Hüfte geprellt. Doch seit sie sich daraufhin ein paar Tage kaum hatte bewegen können, war sie nicht mehr richtig fit geworden.

Stufe für Stufe ersteigt sie nun den Olymp. Kurze Pause auf dem Treppenabsatz. Durchatmen. Bevor sie heute das Haus verlassen hatte, hatte sie noch Schmerzmittel genommen, doch die Wirkung lässt nun nach. Die Beine tun ihr weh. Sie verflucht ihre von Arthrose geplagten Knie. Der Beutel mit den Einkäufen hängt wie eine Tonne an ihren Händen.

Jetzt klappern unten Schlüssel im Schloss. Das kahle kalte Treppenhaus mit dem Steinboden und dem Metallgeländer aus den 70er Jahren verstärkt alle Geräusche und lässt sie in den Ohren dröhnen. Die Haustür wird geöffnet. Hastige Schritte schaben sich eilig die Stufen nach oben, als würde eine Maus an einem Holzstück nagen. Der Nachbar aus der Wohnung über der Frau zieht mit überschwänglichem und etwas zu lautem „Guten Tag, Frau Müller!“ an der alten Dame vorbei.

„Guten Tag!“, gibt sie schlecht gelaunt zurück. „Der hätte ruhig fragen können, ob er was mitnehmen kann.“, denkt sie sich, „Unhöflicher Typ.“

Noch eine Stufe, noch eine Stufe, noch eine Stufe. Irgendwann ist Frau Müller oben, schließt die Wohnung auf, schlüpft mit dem Schuhanzieher aus den Schuhen und setzt sich auf den Stuhl neben der Tür. Erst einmal durchatmen.

Das Telefon klingelt und sie schreckt zusammen. Thomas ist dran. Sie zieht sich langsam wieder hoch und geht zum Telefon. Es dauert ein paar Klingler, bis sie den Apparat erreicht.

„Hallo Mutti! Mensch, du bist ja ganz außer Atem! Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung. Ich komme gerade aus der Stadt, ich war einkaufen. Wie geht’s euch denn?“

„Bei uns ist alles gut. Birgit ist wieder gesund und den Kindern geht’s auch gut. Das Wetter ist mies, es regnet die ganze Zeit. Wie geht’s denn deinen Beinen heute?“

„Es geht, ich war gestern wieder bei der Physiotherapie und habe wieder so eine Massage bekommen. Es wird schon etwas besser. Um die Schmerzmittel komme ich aber noch nicht drum herum. Aber weißt du, die Leute in der Stadt werden auch immer komischer. Denken nur noch an sich und ihre Handys.“

Eigentlich ist sie nicht nostalgisch. Sie denkt nie, dass früher alles besser war. Aber heute ärgert sie sich.

„Mama, ist alles in Ordnung?.“

„Ach, glaub mir, wenn ich hier in der Wohnung tot umfalle merkt das keiner.“

Thomas schweigt einen Moment.

„Du weißt, du kannst gern zu uns kommen.“

„Ja, natürlich.“ Sie stockt, es ist ja nicht seine Schuld, dass sie heute keinen guten Tag hat. „Es tut mir Leid, mir tun heute die Beine wieder so weh, der Rollator klemmt und keiner von den Leuten kommt auf den Gedanken zu helfen. Heute ärger ich mich einfach.“

Frau Müller will jetzt nicht mehr jammern. Thomas hat ja Recht. Er hatte schon so oft versucht, sie zu überreden zu ihm zu ziehen. Das Bauernhaus, das er sich an der Küste mit seiner Frau über die Jahre geschmackvoll ausgebaut hat. Ein großer Garten ist dort und Frau Müller hätte sogar ihr eigenes Zimmer. Aber sie ist Stadtmensch, sie kann sich einfach noch nicht von dem Lärm und der Vielfalt lösen. Sie genießt das Getümmel im Zentrum, die Gerüche und Geräusche. Aber so langsam geht es nicht mehr.

Sie beendet das Gespräch schnell mit der Begründung, sie müsse zur Toilette. Das muss sie nicht aber jetzt gerade mag sie nicht mehr telefonieren. Er wird es ihr verzeihen, er kennt sie.

Thomas ist vor mittlerweile 30 Jahren nach Schleswig-Holstein gezogen. Damals hatte er dort eine gute Arbeit gefunden, eine Frau kennengelernt und war geblieben. Frau Müller kann es ihm nicht verübeln, auch wenn sie sich heute manchmal wünscht, sie wäre nicht so allein im Süden. Ihre letzte beste Freundin ist vor 2 Jahren gestorben. Das war ein harter Schlag gewesen. Nun ist sie über 80 und die Freunde werden zusehends weniger.

Frau Müller hatte sich immer eine große Familie gewünscht. Es hatte aber nicht sein sollen. Sie hatte mit Anfang 20 geheiratet und am Anfang lief auch alles noch gut. Er war ihre große Liebe gewesen. Die Ausbildung zur Zahnarztassistentin hatte sie damals noch beendet und noch ein paar Jahre gearbeitet, aber ihre große Liebe wollte ihre gesamte Aufmerksamkeit haben. Sie kündigte ihre Arbeit und blieb zu Hause.

Als das Baby da war wurde ihr Mann launisch. Er war genervt von den Windeln. Das Geschrei brachte ihn aus der Fassung. Obwohl Thomas ein ruhiges Kind war, schimpfte ihr Mann ständig, der Junge wäre zu laut. Der Mann verbrachte immer weniger Zeit zu Hause. Und wenn doch, war er schlecht gelaunt. Als Thomas in die Schule kam wollte Frau Müller wieder beim Zahnarzt arbeiten. Ihr Vorschlag endete in einem Wutanfall seinerseits und sie beließ es erstmal dabei. Eine Scheidung wäre zu dem Zeitpunkt zu kompliziert gewesen und sie hatte Angst vor der Zeit danach.

Irgendwann fand sie in der Wäsche Lippenstift an seinem Hemdkragen und entschloss sich doch für die Scheidung. Es war 1974. Ihre große Liebe gab ihr im Scheidungsprozess die Schuld am Scheitern der Ehe. Sie wäre ihren ehelichen Pflichten nicht nachgekommen, hätte das Kind und den Haushalt vernachlässigt und er unterstellte ihr sogar eine Affäre. Es war eine Schlammschlacht. Er hatte sich vor dem Unterhalt drücken und Thomas bei sich behalten wollen. Dabei wollte das Thomas damals selbst auf keinen Fall.

Dank eines nach dem Prozess ehemaligen Freundes ihres Mannes konnte sie seinen Betrug beweisen und sie wurde schuldlos geschieden. Das änderte leider nichts daran, dass er den Unterhalt selten pünktlich überwies und das bisschen Geld dann doch nicht reichen wollte. Frau Müller konnte zumindest wieder arbeiten, allerdings zwangsläufig mehr, als es ihr lieb war. Thomas ging nach der Schule zur Nachbarin, damit er nicht allein sein musste. Das tat Frau Müller sehr weh, sie wäre gern mehr für ihn da gewesen.

Irgendwann blieben die Unterhaltszahlungen komplett aus, die ehemalige große Liebe hatte sich ins Ausland abgesetzt und war verschwunden. Frau Müller arbeitete noch mehr, zum Glück war Thomas jetzt schon etwas größer.

Ihr Sohn machte das Abitur und, worauf sie heute schon ein wenig stolz ist, konnte studieren gehen. Sozialpädagogik. Nun gut, warum nicht. Sie hatte sich eher etwas mit Wirtschaft für ihn gewünscht, das schien ihr damals sicherer aber sie muss zugeben, dass der Umgang mit Menschen besser zu ihm passt. Heute kümmert er sich um schwierige Kinder, geht mit ihnen im Wald zelten und solche Sachen. Die Kinder mögen ihn. Wahrscheinlich merken sie, dass er sie versteht. Da hat sie schon Respekt vor. Er war ein anständiger, liebenswerter Mann geworden, da war ist schon ein wenig stolz drauf.

Am nächsten Tag geht sie wieder in die Stadt. Vor der Bushaltstelle hat ein kleines Grüppchen von Menschen einen Infostand aufgebaut. Das Logo prangt mit weißer Schrift und versucht ernsthaft, unauffällig und vernünftig auszusehen. Hinter den Tapeziertischen stehen betont gepflegte Herren mit randlosen Brillen und ordentlichem Seitenscheitel. Sie grüßen freundlich, lächeln die Passanten an. Viele Flyer liegen dort, Wahlprogramme, Ansteckbuttons und eine Armada von blauen Kugelschreibern. Frau Müller kommt mit einem Rollator vorbei und wirft einen Blick auf die Flyer. Sie nimmt ein Wahlprogramm und blättert ein wenig darin herum.

Sie liest etwas von Ausländerkriminalität, Burkas, Erziehungsgeld für Eltern, die Kinder zu Hause erziehen und – sie traut ihren Augen kaum – von der Familien- und Eherechtreform 1976 und dass diese einer ehelichen Stabilität entgegenstehen würde. Frau Müller wundert sich. Sie lebt im Jahr 2021, nicht 1974. Sie hatte ihren eigenen Prozess damals nur mit etwas Glück gewonnen und die Reform sowie die damit einhergehende Abschaffung des Schuldprinzips ein paar Jahre später mit Erleichterung aufgenommen.

„Gute Frau, sie finden doch auch sicherlich die ganzen Frauen in Burka zum fürchten oder nicht? Wir finden, das sollte verboten werden!“, spricht sie ein ordentlich gekämmter Herr in hellblauem perfekt gebügeltem Hemd an. Sie kann die vielen Frauen und Männer ihrer Generation ja verstehen. Die Welt dreht sich scheinbar immer schneller und auch sie fühlt gelegentlich den Drehwurm der Veränderung. Aber nicht jetzt.

„Als ich jung war, junger Mann, wurde mir meine Kleidung auch immer vorgeschrieben.“, antwortet sie langsam, „Das empfand ich als Übergriff. Ihr Anliegen empfinde ich ähnlich. Eine Burka hab noch nie hier auf der Straße gesehen. Außerdem interessiert mich die Kleidung anderer Frauen nicht.“

Er hält einen Moment inne. „Wir setzen uns auch für Familien ein!“, faselt er weiter. Er versucht es nochmal mit einem anderen Thema. Antrainiertes Handwerkszeug für Verkäufer, Feingefühl hat er aber trotzdem keines. Er ist in Schuljunge in gestärktem Hemd.

Sie geht nicht auf ihn ein. Sie hat keine Lust auf eine öffentliche Diskussion. „Sie sind noch jung, beschäftigen sie sich ruhig etwas mit der Geschichte. Dann kommen sie vielleicht von diesen Leuten weg.“ Sie nickt in Richtung des blauen Zeltes. „Früher war nicht alles besser, glauben sie mir das.“

„Und schmeißen sie den ganzen Krempel hier weg, da steht wenig Sinnvolles.“, fügt sie hinzu, drückt dem jungen Mann das Heftchen in die Hand und schiebt in Tippelschrittchen den Rollator weiter.

Die Beine tun Frau Müller immer noch weh aber jetzt in diesem Moment interessiert sie das nicht.


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