Das unbesiegbare Ungeheuer

Ritter in Rüstung mit Schwert

Der König feiert mit seinen stärksten Rittern ein schillerndes Fest. Es wird gegessen, getrunken, getanzt und gesungen.

Plötzlich steht vor dem König eine kleine alte Frau.

„Mein König, wollt ihr mir einen Wunsch erfüllen?“, fragt sie den König.

Der Mann wischt sich das Bier vom Bart und hebt seinen schweren Bauch über die Tischkante.

„Was willst du, alte Frau?“, dröhnt er und lacht. Was soll so ein altes Weiblein schon fordert?

„Ich weiß von einem Schatz.“, antwortet sie mit einem schelmischen Lachen. „Er ist nur für die wirklich tapferen  Menschen. Er wird bewacht von einem Ungeheuer, das so manche mutigen Krieger in die Flucht geschlagen hat. Wer das Ungeheuer besiegt, der wird reich belohnt! Ihr habt doch tapfere Krieger oder nicht?“

Der König schaut verdutzt. Wieso fragt sie das? Will sie ihn beleidigen?

„Gute Frau, bist du noch bei Trost? Ich habe die besten Krieger des Landes um mich versammelt!“

„Dann folgt mir! Zeigt mir eure tapferen Krieger!“

Der König will sich nicht vorführen lassen. Er ruft seine Männer und die feiernde Hofgesellschaft zusammen und sie ziehen alle zusammen der alten Frau hinterher in den Wald.

Sie wandern eine Weile durch dichtes Gestrüpp, die Pferde kommen kaum durch das Gehölz. Schließlich erreichen sie einen alten, halbverfallenen Turm.

„Das Ungeheuer ist im Turm!“, spricht die Alte, „Doch gebt Acht, die meisten Menschen flüchten sofort und kämpfen gar nicht erst. Es scheint ihnen zu furchtbar und zu schwer, überhaupt gegen das Monster zu kämpfen. Andere Menschen versuchen es, scheitern aber .

Der erste Ritter geht hinein, groß und stark wie ein Fels. Nach wenigen Minuten kommt er wieder heraus. Er rennt um sein Leben.  Angsterfüllt nimmt der Recke sein Pferd und reitet in den Wald, als sei der Teufel hinter ihm her.

Der nächste Ritter geht hinein. Ein Kämpfer, wie aus einem Gemälde entsprungen. Auch er kommt sofort wieder hinaus und tut das gleiche, wie der erste.

Ein weiter Krieger bleibt ein Weilchen darinnen. Auch er ein Kämpfer, schön und tüchtig wie sonst keiner. Und doch kommt er weinend und am Boden zerstört aus dem Turm.

Vor lauter Angst betrübt geht die Hofgesellschaft nach Hause. Dieses Ungeheuer ist nicht zu besiegen.

Nur ein junger Page bleibt bei der alten Frau und fragt sie, woher sie das Ungeheuer kennt und warum sie an den Hof gekommen ist.

“Ich wollte einen wahren Ritter finden, der wirklich kämpfen kann.”, sagt die kleine alte Frau, “Kannst du das?”

“Ich bin noch ein Page, ich habe noch kein Schwert.”, erwidert der Junge skeptisch.

“Das brauchst du nicht.”

Die Neugier siegt. “Ich will das Ungeheuer sehen!”, sagt der Knabe und geht hinein.

Er steigt die Stufen zum Turmzimmer hinauf. Sein Herz klopft, er rechnet damit, jeden Moment von dem Ungeheuer mit seinen spitzen Zähnen und stinkendem Atem angefallen zu werden. Seine Schritte wandern entlang von alten Blättern, Dreck und Mäusekot,  immer weiter die schmale Treppe hinauf. Langsam und wie in Zeitlupe stößt er die schwere Holztür auf.

Es herrscht Stille. Er hört nur das Pochen seines Herzens in seinen Ohren.

Zwischen verschlissenen Tüchern wartet kein Monstern. Dort steht ein Spiegel. Der Junge schaut hinein und wundert sich. “Wart’s nur ab!”, hört er die Stimme der alten Frau hinter sich. Plötzlich zeichnen sich Umrisse im Spiegel ab. Doch es ist kein Ungeheuer, das er dort erblickt. Wieder erwartet er ein Monster mit schuppiger Haut, Hörnern und feurigem Atem, doch dort … steht er selbst.

Nackt, dünn und bleich schaut ihm sein Spiegelbild entgegen. Dann sieht er auch andere Gestalten im Spiegel. Es sind seine Eltern, es sind Leute vom Hof, dort ist auch der Priester. Alle reden auf ihn ein, sie schimpfen, sie treiben an, sie fordern und drohen.

Sein Spiegelbild hingegen schaut aus müden, blutunterlaufenen Augen schweigend zu ihm. Der Knabe im Spiegel ist krank und schwach. Doch sein Blick ist entschlossen, trotzig und wütend.

Der Page erschreckt, „Was ist das für ein Spiegel? Warum zeigt er mich so?“

„Der Spiegel zeigt dich nicht so, wie du bist. Er zeigt, wie du dich fühlst.“  

„Und die anderen?“

„Auch die zeigt er nicht so, wie sie sind. Er zeigt sie so, wie du sie siehst.“

„Sind die anderen Ritter deswegen weggelaufen?“

„Nun, mein Junge, nicht jeder kann sich selbst im Spiegel ansehen. So mancher kann dem Anblick nicht standhalten.“

Er wendet den Blick ab. „Was soll das? Du hast uns betrogen, du hast von einem Ungeheuer und einem Schatz gesprochen!“, fragt er traurig und zornig die Alte.

„Denkst du, du bekommst das einfach so? Du bist doch nicht dumm, du bist als einziger geblieben. Der Schatz wartet auf denjenigen, der es mit sich selbst aufnehmen kann. Er ist für diejenigen Menschen bestimmt, die sich selbst im Spiegel anschauen können und sich so sehen, wie sie sind. Du hast gesehen, dass viele Männer davor weglaufen, die sich für groß und mächtig halten. Manche nehmen den Kampf auf, verlieren ihn und sprechen nie wieder davon. Manche gewinnen den Kampf, doch alle kämpfen ihr Leben lang immer wieder. Willst du ihn aufnehmen?“

Der Junge will es wagen. Er kommt, sooft es ihm möglich ist. Warum sieht er sich so schwach? Warum ist sein Spiegelbild so zornig? Es stellt sich die Fragen. Manchmal wird der Junge im Spiegel ein wenig kräftiger, an anderen Tagen steht eine greisengleiche Gestalt dort, mehr tot als lebendig. Der Kampf dauert Tage, Wochen, Monate.

Eines Tages steht er wieder dort. Im Spiegel steht kein Knabe. Dort steht ein Mann, nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu dünn, nicht zu dick. Gesund sieht er aus, von Krankheit keine Spur.

Der Schatz besteht weder aus Gold, Edelsteinen oder Seide. Er fühlt sich stark, gesund und sicher.

Er hat den Schatz.


2 Antworten zu “Das unbesiegbare Ungeheuer”

  1. Liebe Sophie, ich mag deine Geschichten sehr und freue mich auf Nachschub. Ich könnte mir vorstellen dass auch irgendwann ein richtiges Buch erscheint. Ich warte gespannt auf mehr.

    Lieben Gruß

    Susanne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie Consent Banner von Real Cookie Banner