Maria saß lässig auf dem Stuhl in dem kleinen Café in der Stadtmitte und las ein Buch. Ein Bein über das andere gelegt, ein Arm breit über der Lehne positioniert. Langsam schlürfte sie den Latte Macchiato vor sich und zog an der Zigarette. Der hübsche Kellner kam, sie zahlte und gab ihm noch ein großzügiges Trinkgeld. Nach einem kleinen Flirt verabschiedete sie sich und setzte sich auf den großen Platz unter einen Baum und las weiter. Die Sonne schien, es war warm und sie genoss ihr Leben. Sie hatte sich schick gemacht, ihre neueste Jeans angezogen, die nicht billig gewesen war, ihre gestärkte Businessbluse übergestreift, die langsam ergrauenden Haare sorgfältig nach hinten gebunden und die Markensonnenbrille aufgesetzt. Parfüm und diverse Armbänder und Kettchen durften nicht fehlen. Sie putzte sich gern heraus. Dann, so fand sie, sah sie gut aus, macht einen guten Eindruck, als wäre sie erfolgreich und hätte etwas geschafft im Leben.
Als es langsam später wurde, machte sich Maria auf den Heimweg. Sie schlenderte mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte durch die von Edelboutiquen gesäumte Einkaufsstraße in Richtung Haltestelle. Umgeben von schönen Menschen und schönen Dingen war die Welt in Ordnung.
In der Wohnung angekommen sah sie schon die Schuhe ihres Mitbewohners Tarek im Flur stehen. Maria zog ebenfalls Jacke und Schuhe aus und ging in die Küche. „Hey, wie gehts!“, begrüßte sie den jungen Mann, der gerade Tomaten für einen Salat kleinschnitt. „Hey!“, war die knapp gemurmelte Antwort. „Pass auf, ich hab grad einen kleinen Engpass. Ist das ok, wenn ich dir die Miete diesen Monat ein bisschen später gebe?“
Tarek stockte in seinen Bewegungen, atmete tief durch und schaute Maria mit ernstem Gesicht an. „Danke, ich hatte keinen so guten Tag.“, antwortete er. „Wie wärs, wenn du mir erstmal die Miete vom letzten Monat nachzahlst, das hast du nämlich auch noch nicht.“ „Hey Mann, du musst verstehen, es gab viel Regen in der letzten Zeit. Der Sommer war kalt und nass, da gehen nicht so viele Leute ins Restaurant.“ „Und du kannst mir so locker ins Gesicht schauen, wenn du mich anlügst, du …, „Tarek stockte. Er wollte seinem Ärger Luft machen, aber beleidigen wollte er sie nicht. Ihm fiel auf die schnelle kein passendes Attribut für seine Mitbewohnerin ein. „Ich habe vor ein paar Tagen deinen Chef getroffen und wir haben geplaudert.“, fuhr er fort und legte das Messer geräuschvoll auf die Arbeitsplatte, „Das Geschäft lief gut, hat er mir erzählt.“ „Ja und? Ich hab das Geld trotzdem nicht. Ich schwör dir bei Gott, ich gebs dir nächsten Monat, gleich wenn ich meinen Lohn bekommen habe.“ „Schwör lieber nicht zu viel, Gott kennt wenig Spaß, wenn man ihn verarscht. Ich bin verdammt nochmal nicht deine Bank, ich kann nicht ewig für dich bezahlen. Ich bin sowas von froh, dich bald los zu sein!“ Tarek schnippelte seinen Salat fertig, kippte mit zu viel Schwung Öl und Zitronensaft darauf, verschüttete einen Teil und wischte die Sauerei leise fluchend wieder auf. Jede Sekunde mehr mit dieser Frau macht ihn wütender. Er freute sich schon so sehr auf seinen Auszug. In nur zwei Wochen würde er endlich mit seiner Verlobten zusammen ziehen, dann wäre die ganze Scheiße hier vorbei.
Maria ging in ihr Zimmer. Sie hatte es geschmackvoll eingerichtet, leider hatte sie kaum Zeit zum Putzen. An den Wänden hingen die Bilder ihrer Familie. Das große Familienbild mit ihren Eltern und den drei Geschwistern. Ihre Mutter trug eine neue Bluse mit bunten Blumen, welche sie extra neu gekauft hatte und saß zentral im Bild. Dahinter der Vater im schicken Anzug, den er ungefähr zweimal im Jahr trug. Der Schnauzbart verdeckte seine schmalen Lippen, die meist zu einer dünnen Linie zusammen gepresst waren. Die harten Augen zeugten von Erinnerungen an seine Zeit als Offizier in der Armee. Auch auf diesem Bild konnte man nicht das kleinste Anzeichen eines Lächelns in seinem Gesicht sehen. Er war ein gut aussehender aber stiller Mann, der wenig sprach und noch weniger lachte und dessen Mimik von der eisernen Disziplin erzählte, die er mit jeder Atemzug und jeder Wimpernschlag inne hatte. Das volle Haar und die Lockenpracht hatte sie von ihm geerbt. Er muss einmal ein sehr weicher Mann gewesen sein, voller Temperament und Emotionen. So hatte es zumindest die Mutter erzählt. Doch das Militär hatte ihn geformt. Maria hatte oft darüber nachgedacht, was er gesehen und erlebt haben musste, doch jede Frage in diese Richtung hatte der Vater immer nur abgeblockt und mit einer Handbewegung weggewischt. Gabriel, ihr jüngerer Bruder und die zwei Schwestern Teresa und Martha standen jeweils links und recht von den Eltern. Alle, außer dem Vater, lachten und waren glücklich. Das Bild war schon älter, sie hatten es kurz vor Marias Abreise nach Deutschland machen lassen.
Sie ließ sich in ihren Sessel fallen. Sie hatte Post bekommen, öffnete sie jedoch nicht, sondern legte sie zu den anderen ungeöffneten Briefen auf dem Regal. Sie hatte jetzt keinen Nerv dafür und ihre Laune war im Keller. Morgen würde sie alles aufmachen. Die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren öffnete den Laptop und ging auf Facebook, chattete ein wenig, nebenbei lief ihre Lieblingsserie auf dem neuen Großbildfernseher, bis sie bald ins Bett ging.
Am nächsten Morgen schlief sie lang, die Schicht im Restaurant begann erst am Abend. Gegen 10 wachte sie auf, ohne Kraft sich zu bewegen und aufzustehen. Wozu sollte sie überhaupt schon aufstehen? Irgendwann drückte die Blase und Maria hatte keine Wahl mehr. Als sie auf die Toilette gehen wollte, streifte ihr Blick die Briefumschläge, die noch im Regal lagen. Sie erkannte einen Umschlag von der Hochschule und einen vom Ausländeramt. Diese sollte sie vielleicht doch öffnen. Der Brief der Hochschule war eine Aufforderung zur Rückmeldung. Würde sie sich später rückmelden, müsse er Strafgebühren bezahlen, so der Brief. Maria war schon eine Weile nicht mehr an der Hochschule gewesen. Sie hatte allen erzählt, sie müsste so viel arbeiten, aber tatsächlich kam sie einfach nach den ersten paar Vorlesungen in Grundlagen des Maschinenbau und höherer Mathematik nicht mehr mit.
In der Schule hatte sie immer hervorragende Noten gehabt, auch im Goethe-Institut und ihr Vater war so stolz auf ihn gewesen und hatte alles erzählt, seine Tochter wäre eine hochbegabte zukünftige Ingenieurin. Das Studienkolleg hatte Maria im zweiten Anlauf noch mit Ach und Krach bestanden und auch nur, weil sie dem Lehrer erzählt hatte, ihr Vater wäre gestorben und ihre Familie hätte nun massive finanzielle und soziale Probleme. Als ihr Vater dem Lehrer bei der Abschlussfeier die Hand schüttelte und erklärte, er wäre so Stolz auf die erstklassigen Leistungen seiner Tochter, wäre Maria am liebsten im Boden versunken. Aber der Lehrer hätte sich selbst in Teufels Küche gebracht, hätte er am Ergebnis nachträglich noch etwas geändert, also geschah gar nichts. An der Uni klappte dann nichts mehr. Das erste Studium in Informatik schmiss sie nach sechs Semestern, von denen sie nur zwei anwesend war. Dann begann sie mit Elektrotechnik, doch auch das langweilte und überforderte sie schnell. Nun war sie im 4. Semester in Maschinenbau eingeschrieben. Sie erzählte allen, wie viel sie lernen würde, erfand fiktive Prüfungen, die sie mal bestand und mal nicht, damit es realistisch wirkte. Der immer ernste Vater hatte sich immer einen Ingenieur in der Familie gewünscht. Sie sollte es nun sein. Gabriel hatte von Anfang schlechte Noten in Mathe gehabt, er wollte immer Musiker werden. Den Eltern war das nie recht gewesen, doch er hatte es geschafft. Leben konnte ihr kleiner Bruder davon noch nicht so recht, er hielt sich mit Aushilfsjobs neben seinen Auftritten über Wasser. Doch er hatte etwas gefunden, was er mit Leidenschaft tat. Das bewunderte Maria. Teresa machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Zumindest eines von uns Kindern, das was vernünftiges macht, dachte sich Maria. Martha war noch in der Schule und hatte sich noch nicht entschieden.
Der zweite Brief war von der Ausländerbehörde. Sie sei nun schon seit zehn Jahren mit einem Studentenvisum in Deutschland und die Frist würde bald auslaufen. Die Behörde glaubte nicht daran, dass sie ihr Studium innerhalb des letzten Semesters würde beenden können. Es war eine Ausreiseaufforderung. Maria hatte noch 3 Monate Zeit um alle wichtigen Angelegenheiten zu regeln, danach sollte sie die Bundesrepublik verlassen.
Wie in Trance legte sie den Brief beiseite. Die Markenkleidung, der Flachbildfernseher, die Armbanduhren, das Parfüm, alles ließ sie sich gut und lebendig fühlen. Doch das komische Gefühl war immer geblieben. Dieser fade Beigeschmack, den sie bei allem hatte, das Gefühl, unnütz zu sein, war immer ihr Begleiter gewesen. Sie hatte vor ein paar Jahren eine Psychotherapie begonnen, als sie das erste Mal ernsthaft darüber nachgedacht hatte, dass sie nicht mehr weitermachen wollte. Nach ein paar Sitzungen war sie nicht mehr hingegangen. Sie würde es doch selbst hinbekommen – dachte sie.
Maria hatte die wichtigsten Jahre ihres Lebens in Deutschland verbracht, hatte sich integriert, wie das immer alle wollten. Sie hatte viele Geliebte gehabt, trank Alkohol, hatte sogar einmal Gras probiert – es hatte ihr nicht besonders gut geschmeckt, es blieb bei einem Hustenkrampf und dass sie sich nach dem Rauchen übergeben musste. Bei der Erinnerung schien der Blick ihres Vaters vom Bild hinunter noch brennender als vorher zu sein. Er hatte es und würde es besser nie erfahren. Und nun käme seine Tochter zurück. Nach zehn Jahren ohne Abschluss, ohne Arbeit, ohne Mann. Der Vater wäre zutiefst enttäuscht. Alle würden darüber reden. Die Verwandten und Bekannten, das ganze Dorf.
Die junge Frau legte den Brief zu Seite. Sie hatte Probleme, das wusste sie, aber durfte sie nicht trotzdem ein gutes und schönes Leben führen?
Sie beschloss ein Bad zu nehmen. Maria zog sich aus und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Die langen Locken fielen weich über ihre Schultern. Mit nackten Füßen schritt sie langsam über die kalten Fliesen. Sie ließ das Wasser ein, kippte einen großzügigen Schwall Schaumbad dazu, stellte ein großes Glas Rotwein auf das Beistelltischen und legte auch die Rasierklinge bereit. Es wurde ein sehr langes Bad, aber danach würde sie sich befreit und sauber fühlen – aber vor allem eines: lebendig.