Die Ballerina

Die Ballerina

Meryem stand mitten im Wohnzimmer. Sie hatte ein schönes Kleid an. Zusammen mit Oma hatte sie es extra für diesen Tag gekauft. Es hatte einen schönen Rock aus Tüll und Spitze und sie fühlte sich ein wenig wie eine Ballerina. Die 7-Jährige versuchte eine Pirouette zu drehen und hüpfte ein wenig auf Zehenspitzen auf und ab.

Um das kleine Mädchen herum bewegten sich emsig verschiedene Familienmitglieder, alle aufgeregt und hektisch.

Fadi, ihr kleiner Bruder spielte mit seinen Autos auf dem Boden. Er hatte sogar einen richtigen Anzug an aber der interessierte ihn nicht.  Mit seinen Spielzeugautos hatte einen Stau nachgebaut und ließ gerade den Krankenwagen durch die Rettungsgasse bis zum Unfall vorfahren. „Üüla-lüüla-lüüla-lüüla …“, sang er vor sich hin, versunken in seine Fantasiewelt.  

Nun waren endlich alle fertig und die Familie setzte sich in Bewegung. Alle hatten ihre Jacken, Mäntel und Schuhe angezogen, stiegen in die Autos und fuhren zu der kleinen Kapelle. Meryem betrachtete noch einmal den Spitzenbesatz ihres neuen Kleides. Auch Mama hatte sich schick gemacht und trug ihr neues Kleid. Ihres war ebenfalls aus viel Tüll und Spitze und sah aus wie ein richtiges Prinzessinnenkleid. Vor lauter Aufregung hatte Mama die letzten Tage kaum gegessen. Meistens war sie nur telefonierend durch das Haus gelaufen. Zum Glück waren Oma und Opa und die anderen auch da gewesen. Mit ihnen war es immerhin etwas ruhiger und Meryem  musste sich nicht die ganze Zeit um Fadi kümmern, sondern konnte auch mal selbst spielen.

Als sie ankamen ging Mama nicht direkt zur Kapelle sondern zuerst zu ihrer besten Freundin Annika, die am Tor wartete. Annika zog Mama in Richtung Hintereingang, damit sie ein bisschen aus der Schusslinie der bald kommenden Gäste kam. Annika war Floristin und hatte für den heutigen Tag den Blumenschmuck gemacht. Er war wirklich schön geworden. Viele Wiesenblumen hatte sie verwendet, bunte Farben, alles frisch wie der Frühling.

Fadi hatte den Trubel der letzten Tage gar nicht richtig wahrgenommen. Ihn hatte nur gestört, dass keiner Zeit für ihn hatte und niemand mit ihm spielen wollte. Das hatte ihn oft wütend gemacht. Wenn  er zu wütend wurde, spielte Meryem etwas mit ihm. Dann nahm sie ihn bei der Hand und putzte ihm die Nase. Wenn er sich schmutzig gemacht hatte, zog sie ihm saubere Sachen an und schimpfte manchmal ein wenig, wenn er zu viel Blödsinn gemacht hatte.

Das Mädchen merkte sowieso immer sehr schnell, wie es anderen ging, da hatte sie ein ganz feines Gespür. Mama war mit dem Kopf ganz weit weg und Oma damit beschäftigt, Mama zu beruhigen, was gerade oft nicht funktionierte.

Meryem stand auf dem Platz vor der Kapelle, der von vielen großen Bäumen gesäumt war. Ihr wurde langweilig. Es war noch kühl und ihr wurde etwas kalt. Außerdem war ihr langweilig. Papa würde schon in der Kapelle warten, hatte Mama ihr erzählt, deswegen ging sie schon einmal dorthin. Fadi war bei Oma. Die beiden liefen gerade ein bisschen die Straße hoch und runter.

Als sie die Halle betrat schlug ihr der herrliche Duft von Frühlingsblumen entgegen, auch hier war alles bunt geschmückt. Durch die Lautsprecher erklang leise Musik. Sie hatte die Musik mit Mama zusammen ausgesucht. Es waren die Lieblingslieder der Familie.

Papa war auch schon da und Meryem lief zu ihm. Er sagte natürlich nichts. Ob er auch aufgeregt war? Er musste aber auch gar nichts sagen. Das war schon immer so gewesen. Bisher hatte auch immer ein kleines Zwinkern ausgereicht und sie wusste sofort, was er dachte. Er schaffte es auch immer, sie mit nur einem Blick zum Lachen zu bringen. In Zukunft mussten eben die Gedanken daran reichen. Sie wusste, dass er seinen blauen Lieblingsanzug tragen würde, dazu das weiße Hemd mit den kleinen blauen Punkten. Darin sah er am besten aus, vor allem wenn er sich noch etwas Gel in sein schwarzgelocktes Haar machte. Sie hatte sich geschworen, dass, wenn sie einmal heiraten würde, ihr Mann auch so einen Anzug tragen müsste.

Jetzt stand sie vor Papa und strich liebevoll über das glatte helle Holz. Es fühlt sich warm und gut an.

„Ich hab dich lieb, Papa!“, flüsterte sie, als wolle sie ihn wecken.

Durch die großen Fenster sah sie die ersten Gäste kommen. „Ich bin gleich wieder da.“, flüsterte sie nochmal und lief durch den Hintereingang hinaus. Vor dem Vordereingang standen schon Freunde und Verwandte in kleinen Grüppchen. Meryem hüpfte von Gruppe zu Gruppe, von einem bekannten Gesicht zum nächsten und vergaß für einen Moment den ganzen Trubel um sie herum.

Dann erblickte sie wieder Mama. Sie lief zu ihr und ergriff ihre Hand. Jetzt war es soweit. Alle gingen in die Kapelle und setzten sich. Der Pfarrer begann zu reden, Onkel Elyas sagte auch noch etwas und musste sogar ein paar Tränen wegdrücken. Dann wurde ein anderen von Mamas und Papas Lieblingsliedern gespielt und alle fingen an zu weinen.

Die Feier war schön, die Reden, die Musik, die Brötchen, der Kaffee und Kuchen danach. Mama aß wieder nichts. Ihre Tochter stellte ihr ein großes Glas Saft hin und ein Wurstbrötchen mit kleinen Paprikastreifen. Fadi meckerte ein bisschen, weil er lieber Pommes wollte aber seine große Schwester konnte ihn doch zu einem Käsebrötchen überreden. Sie selbst aß auch eines und eine Banane. Sie hatte jetzt großen Hunger. Jetzt war Papa weg und irgendwer musste sich um Mama und ihren kleinen Bruder kümmern, dachte sie sich.

Sie vermisste Papa aber Mama hatte ihr erzählt, dass er jetzt beim lieben Gott war.  Sie stellte sich das ganz schön vor. Dort gab es bestimmt jeden Tag viel Kaffee, den mochte ihr Papa so sehr und ganz viel Schokolade. Für ihn gab es da bestimmt auch langweilige Bücher, die er immer gelesen hatte. Meryem fand die Bücher doof, weil es dort keine Bilder gab aber Papa las sie gern, deswegen musste der liebe Gott solche unbedingt im Regal haben.

Vor einer ganzen Weile hatte sie eine Reportage über Ballerinas im Fernsehen gesehen. Die schlanken Frauen in den Kleidchen hatten ihr gut gefallen. Sie hatten viel Kraft und konnten die wunderbarsten Dinge mit ihren Armen und Beinen anstellen. Die Ballerinas trainierten hart und oft taten ihnen die Beine und die Füße weh vom vielen Proben. Vor allem das Tanzen auf den Zehenspitzen war schmerzhaft doch auf der Bühne schwebten sie wie Federn über das Parkett, als sei es das Leichteste auf der ganzen Welt. Die Zuschauer jubelten und applaudierten nach der Vorstellung. Das Brennen in den Füßen dagegen spürten nur die Tänzerinnen.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie Consent Banner von Real Cookie Banner