Wie Puderzucker lag der Schnee auf den Dächern und den Autos. Sanft landeten die kleinen Flöckchen auf ihren weißen Kissen. Mo stand am Fenster seines Zimmers und freute sich. Es war früher Morgen und über Nacht hatte es geschneit.
Mo wohnte in einem alten Haus mit zwei Stockwerken. Oben wohnte er mit seinen Eltern und unten wohnten seine Großeltern. Mo fand das sehr schön. Er hatte seine Großeltern sehr gern und war oft bei ihnen. Opa machte immer viel Quatsch und außerdem war Oma die weltbeste Köchin. Heute wollte Sie Kartoffelpuffer mit Apfelmus machen. Das war sein Lieblingsessen. Mo ging schon in den Kindergarten aber gerade waren Ferien und deswegen hatte er ausschlafen können. Er vermisste seine Freunde, das Burgenbauen und die Ninjaspiele ein wenig, aber nach dem Aufwachen noch ein wenig in der warmen Bettdecke zu kuscheln und nicht aufstehen zu müssen, war auch schön.
Jetzt hatte er aber fertig gekuschelt, zog sich schnell seine Hausschuhe an und lief in seinem Spiderman-Schlafanzug nach unten, wo Oma schon in der Küche stand und Kartoffeln für das Mittagessen schälte.
„Na mein Schätzchen, bist du aufgewacht?“, fragte sie ihn, ohne mit dem Schälen aufzuhören. Im Hintergrund lief das Radio mit einem Schlager. Das hörte Oma am liebsten. Auf Mos Platz standen schon ein Teller mit Brot und Nutella. Oma stand auf und machte ihm in der Mikrowelle einen Becher mit Milch warm. Sie trug, wie sie es immer zu Hause tat, ihre blaugeblümte Kittelschürze und hatte ihr Haar zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Liebevoll strich sie ihm über den Kopf. Oma redete nie sehr viel. Früher war sie einmal Krankenschwester gewesen und auch heute war sie streng und tapfer wie ein Piratenkapitän. Opa saß daneben auf seinem Platz auf der Sitzbank. Die Brille mit den dicken Brillengläsern auf der Nase las in der Zeitung. Früher hatte er einmal rabenschwarze Haare gehabt, heute waren sie weiß und grau aber immer noch voll und ohne Lücken. Was er aber immer noch hatte waren seine dunkelbraunen wachen Augen.
Das kleine Hündchen Mischa saß neben ihm in seiner Ecke und döste vor sich hin. Es war eine kleine alte Hundedame mit kurzem weißbraun geflecktem Fell. Neben Opa hing ein Bild an der Wand. Es war eine ältere Schwarzweißfotografie, das Opa mit einem anderen Mann mit einer Narbe auf der Backe vor einer wunderschönen alten Dampflok zeigte. Mo wusste, das Opa früher einmal Zug gewesen war und dass er mit seinem Freund um die ganze Welt gereist war. Von seinen Fahrten erzählte Opa immer die spannendsten Geschichten und Mo fand, dass sein Opa der weltbeste Geschichtenerzähler war. Opa kam eigentlich aus einem anderen Land, Mo wusste aber nicht welches. Er war irgendwann nach Deutschland gekommen, um Geld zu verdienen und weil er Lust auf Abenteuer gehabt hatte, hatte er gesagt. Als er irgendwann einen Motoradunfall gehabt hatte und ins Krankenhaus gekommen war, hatte er Oma kennengelernt.
„Ich habe ihr im Krankenhaus was Lustiges erzählt und das hat ihr gefallen. Als ich wieder gesund war, hab ich sie gefragt, ob sie mit mir Essen gehen möchte und sie hat zugesagt.“, freute er sich immer wieder, wenn er daran dachte, und kicherte dabei. „Sie hat nicht viel erzählt beim Essen, aber dafür kann ich ja reden für zwei.“ Das liebte Mo an seinem Opa, er war immer fröhlich und es wurde mit ihm nie langweilig.
„Opa?“, mampfte Mo.
„Ja, mein Großer?“
Er schluckte schnell, damit er weitersprechen konnte. „Draußen liegt Schnee! Gehen wir raus?“
Opa schaute von der Zeitung auf. Durch die Gläser, groß wie Aschenbecher, sahen seine Augen riesig aus. Mo fand das immer lustig. „Stimmt!“, sagte er, „Na, dann iss schnell dein Frühstück und danach gehen wir raus.“
„Aber zieht euch warm an! Du auch, Hussein!“, warf Oma ein und warf ihnen beiden einen strengen Blick zu, zwinkerte aber zum Schluss nochmal und schälte weiter die Kartoffeln.
Er aß das Schokoladenbrot, trank einen großen Schluck warme Milch und machte sich in Windeseile fertig zum Rausgehen. Das konnte er schon gut allein, nur die Zähne wollten Oma und Mama immer nochmal nachputzen.
Mo und Opa liefen zum Spielplatz, der gleich in der Nähe des Hauses lag. Mischa hatte nicht rausgehen wollen. Sie lag lieber in der warmen Küche auf der Sitzbank.
Langsam gingen sie den Weg entlang. Plötzlich sahen die beiden etwas sehr Merkwürdiges. Auf den ersten Blick waren es einfach Spuren im Schnee. Aber etwas an ihnen war anders. Es waren zwei parallel nebeneinander verlaufende Linien. Für einen Kinderwagen viel zu groß, für ein Auto viel zu schmal. Es sah fast aus wie … Zugspuren.
„Opa, schau mal, das sind Zugspuren!“, rief Mo. Opa schmunzelte und schaute verschmitzt auf den Jungen. „Na, wer weiß. Vielleicht war das ja wirklich ein Zug. Ich hab schon mal von so einem Zug gehört. Man nennt ihn den Traumzug und er fährt manchmal nachts zu den Kindern und bringt sie zu den wunderschönsten Träumen. Er kommt nur sehr selten, weil er ja um die ganze Welt fährt und fliegt. Es gibt aber ein paar Tricks, wie er vielleicht doch kommt.“
„Was muss man denn machen, damit er kommt?“, wollte Mo jetzt ganz aufgeregt wissen. „Naja, zuerst muss man ein schönes Bild von einer Eisenbahn malen und ins Fenster kleben. Dann muss man ein Glas Milch und ein paar Kekse für den Zugfahrer bereitstellen, denn der Zugfahrer hat oft Hunger von der vielen Fahrerei. Und zuallerletzt, muss man ein Licht ins Fenster stellen. Der Zugfahrer muss ja irgendwie sehen, welche Kinder ganz besonders auf ihn warten. Vielleicht magst du nachher mit der Oma ein paar Kekse backen?“ „Oh ja!“, rief Mo. Er fand die Idee wirklich gut. Aber ob Opa ihn nicht vielleicht auf den Arm nehmen wollte? Möglicherweise waren es doch nur die Spuren eines ganz normalen Kinderwagens oder so.
„Opa?“
„Ja, mein Schatz?“
„Warst du schonmal im Traumland?“
Opa lachte nur schelmisch und zwinkerte ihm zu.
„Wer weiß, wer weiß…“, war die einzige Antwort.
Sie machten auf dem Spielplatz eine Schneeballschlacht und Mo machte einen großen Schneeengel. Als sie wieder zu Hause waren, gab es schon bald die Kartoffelpuffer. Die frische Luft hatte ihn und Opa hungrig gemacht. Wie immer schmeckten die Puffer superlecker und Mo aß gleich vier Stück davon, obwohl sie sehr groß waren. Nach dem Essen setzte er sich gleich an den Küchentisch und malte eine große bunte Eisenbahn. Sie wurde wunderschön.
Am Abend, als er ins Bett ging, hatte er sein Zugbild mit Opa ins Fenster geklebt. Er war sich aber doch nicht ganz sicher, ob das alles so stimmte mit dem Traumzug. Er wollte Opa so gerne glauben, aber ein wenig misstrauisch war er doch.
Nach der Gute-Nacht-Geschichte machte er schnell das Licht aus, aber natürlich kein Auge zu. Er war sehr aufgeregt. Immer wenn ein Auto an seinem Haus vorbeifuhr und die Scheinwerfer matte Lichter an den Wänden seines Zimmers entlang wandern ließen, hoffte er auf den Zug.
Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein, denn ein Pfeifen riss ihn aus dem Schlaf. Mo sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Und tatsächlich, direkt vor seinem Fenster im ersten Obergeschoss wartete … ein Zug. Ein richtiger Zug! Helle Lichter leuchteten durch die Abteilfenster. Aus dem Fenster der Lok lehnte sich nun der Zugführer mit einer langen Pfeife im Mund. Freundliche blaue Augen blitzen aus dem verrußten Gesicht, das komplett mit einem roten Bart bedeckt war. Unter dem Barthaar konnte man eine Narbe auf der Backe erkennen. Unter der braunen Mütze lugten ebenfalls flammendrote Haare hervor.
„Wie sieht‘s nun aus, mein Junge? Kommst du nun mit? Du hast doch das Bild ins Fenster geklebt!“, rief er mit tiefer rauer Stimme.
Mo glaubte seinen Augen nicht. Es gab ihn wirklich, den Traumzug!
„Wir können hier nicht ewig stehen!“, rief der Zugführer erneut. Er wurde ungeduldig.
Mo wusste nicht, was er machen sollte. Sollte er etwa aus dem Fenster springen. Der Zug schwebte immerhin in gut 3 Metern Höhe. Er könnte runterfallen. Das war sehr gefährlich.
„Wie soll ich denn in den Zug kommen?“, rief er hinüber.
„Oh, das habe ich ja ganz vergessen!“, antwortete der Zugführer und schlug sich die Hand vor den Kopf. Dann eilte er auf die andere Seite seiner Lok und kam mit einer Leiter wieder zum Fenster. Die Leiter schob er durch das Fenster des Führerhäuschens bis zu Mos Fenster. Sollte dieser dort etwa hinüber klettert?
„Kletter rüber!“, rief der Lokführer, „Da kann nichts passieren!“
Der Mann war wohl verrückt! Aber Mo wollte so gern mitfahren. Also nahm er seinen ganzen Mut zusammen und kletterte über die Leiter in den Zug. Es war windig und kalt und er hatte nur seine Hausschuhe an. Es waren die schönen warmen Latschen mit Spiderman aber zum Klettern waren sie nicht geeignet. Sprosse für Sprosse kletterte er mit klopfendem Herzen weiter, bis er endlich das Fenster erreicht hatte und sich in den Raum fallen ließ.
„Na endlich!“, rief der Mann, holte die Leiter wieder hinein und legte einen großen Hebel nach vorn. Mit einem heftigen Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und es ging los. Schneller und schneller stiegen sie in die Höhe. Unter ihnen glitten die Häuser und Straßen dahin. Ein paar erschrockene Katzen sprangen von Mülltonnen und Mo wunderte sich, warum die Menschen dort unten nicht aufwachten. Der Zug war ganz schön laut.
„Keine Sorge!“, brüllte der Zugführer, als könne er Gedanken lesen, „Der Zug ist nur für Kinder da. Erwachsene hören und sehen ihn nicht. Aber sag mal, willst du nicht nach hinten zu den anderen gehen?“
Mo drehte sich um. Dort war eine Tür, die er vorher gar nicht gesehen hatte. Er versuchte sie zu öffnen. Die Klinke ging schwer und er musste sie mit aller Kraft hinunter drücken. Dann schwang die Tür mit so viel Kraft auf, dass sie Mo mit sich zog und er fast wieder hinunterfiel. Dieser Zug war keiner von denen, die er bisher am Bahnhof gesehen hatte. Das hier war eine richtige Dampflok. Die Lok war mit dem ersten Abteil nur über einen kleinen Übergang verbunden. Tief unter sich sah er die Lichter der Stadt und der eiskalte Wind zerzauste ihm die Haare und kroch ihm unter den Schlafanzug. Er kletterte vorsichtig zum nächsten Waggon und zum Glück ließ sich diese Tür leichter öffnen. Er war so froh, als er endlich das warme und freundlich beleuchtete Abteil betreten konnte. So schnell wie möglich schloss er die Tür hinter sich.
Auf den Plätzen saßen schon andere Kinder. Alle sahen unterschiedlich aus. Manche hatten dicke Schlafanzüge mit Frotteebademänteln, manche hatten nur kurze Höschen und T-Shirts an, als wäre es bei Ihnen Sommer gewesen. Der Zug war anscheinend um die ganze Welt gefahren.
Sie glitten nun sanft über die Wolken, viele Kilometer unter sich tausende von kleinen Lichtern der Städte und Laternen, über sich nochmal hundert weitere Lichter der Sterne. Der Ausblick war atemberaubend. Aber die Fahrt blieb nicht lange so sanft und idyllisch. Schon nach kurzer Zeit setzten sie mit einem Mal zum Sturzflug an. Der Zug ruckelte heftig und die Kinder mussten sich festhalten. Wer dies nicht tat, fand sich schnell auf dem Teppichboden wieder und stieß sich sogar ein wenig den Kopf an. Zum Glück wurde niemand verletzt.
Die Kinder wurden nun von der Fliehkraft in ihre Sitze gedrückt, während der Zug mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe zustürzte. Die Wolken rasten draußen an ihnen vorbei und Mo war fest davon überzeugt, dass sie jeden Moment auf dem Boden zerschellen würden. Er wagte einen Blick aus dem Fenster. Draußen konnte er nichts erkennen, aber es war Tag geworden. Er hielt sich fest und schaute weiter aus dem Fenster. Weit unten konnte er eine Insel erkennen, mitten in einem türkisblauen Meer. Rundherum gab es viele weitere Inseln, aber sie steuerten direkt auf die aller größte von ihnen zu.
Was sollte das denn bloß, dachte er sich. Wieso brachte der Zugführer die Kinder weg, um sie dann ins Meer fallen zu lassen? Vielleicht hatten sie eine größere Überlebenschance, wenn sie ins Meer fielen, anstatt auf die Insel? Aber unmöglich, der Aufprall würde sowohl den Zug, zerreißen, wie auch alles darin.
Kurz bevor sie den Boden erreichten und als wären sie in einer Achterbahn, fuhren sie plötzlich vollkommen waagerecht weiter, knapp unter sich die glitzernde Wasseroberfläche, bis sie die Insel erreichten. Dann, mit einem Ruck und unter lautem Quietschen, stoppten sie. Mo fühlte sich wie betrogen. Warum machte man den Kindern eine solche Angst?
Alle standen nun auf und liefen mit noch zitternden Knien zum Fenster. Angesichts dessen, was sie dort erblickten, stauten sie nicht schlecht. Vom Fenster des Zuges aus konnten sie direkt auf die Bucht vor der Insel sehen. Zwischen den grünen Palmen leuchtete der Strand hell und weiß in der Sonne und das türkisblaue Meer strahlte eine wunderbare Ruhe aus. Die Luft roch nach Salz, nach Fisch und noch etwas. Es roch ein wenig wie die Luft nach Silvester. Mo überlegte. Das war … Schießpulver. Woher kam das denn? Die Kinder schauten sich gegenseitig fragend an. Auf einmal öffnete sich die Tür zur Fahrerkabine und der Lokführer kam hindurch.
„Na, wie siehts aus? Wer hat Lust auf einen Piratentraum?“
„Ein Piratentraum?“, riefen die Kinder fast Chor. Sie kletterten die Stufen ihres Waggons hinunter und stolperten in ihren Hausschuhen oder barfuß durch den Sand. Ihre Füße versanken im warmen weißen Sand, weich wie Puderzucker. Schnell laufen war unmöglich, dennoch liefen sie so schnell wie möglich, strauchelnd und stolpernd. Wer ein paar Meter nach vorn gelaufen war, konnte hinter den Palmen den Ursprung des Schießpulvergeruches erkennen. Er war ein gigantisches Piratenschiff. Schon aus der Ferne konnte man die Rufe der Männer an Bord hören und wer genauer hinschaute, konnte zwischen den Wellen auch das kleine Beiboot erkennen, auf dem ein Seemann mit einem Kopftuch und einer Augenklappe auf den Strand zu gerudert kam. Der Seemann sah wild und verwegen aus, aber nicht gefährlich.
Hinter sich hörten sie plötzlich einen Schrei. Aber es war weder ein Angst- noch ein Schmerzensschrei. Dort schrie jemand vor lauter Freude! Es war ein kleines Mädchen mit lustigen braunen Locken und einer Zahnlücke. Es war ungefähr fünf Jahre alt und trug einen etwas abgetragenen kurzen Supermanschlafanzug und einem großen Holzsäbel in der Hand. Während es rannte, hüpften seine Locken auf und ab. An den vielen Kratzern an Armen und Beinen konnte man erkennen, dass es ein abenteuerlustiges und wildes Mädchen war. Die Augen des Mädchens leuchteten vor Freude.
Den anderen Kindern stand der Mund weit offen vor Staunen. Das musste das Traumland sein! Plötzlich ertönte hinter ihnen das Pfeifen des Zuges. Sie hatten nicht viel Zeit gehabt, die Szenerie zu beobachten.
„Alles einsteigen, weiter geht’s zum nächsten Traum! Wir haben doch nicht die ganze Nacht hier Zeit!“, erklang die kräftige Stimme des Zugführers. Die Kinder erschraken ein wenig. Ein paar zögerten noch ein wenig, weil sie sich nicht ganz entscheiden konnten. Ein Junge entschied sich doch noch für den Piratentraum und folgte dem braungelockten Mädchen, das nun schon das Ufer erreicht hatte und auf- und abhüpfend dem Piraten in dem Beiboot zuwinkte.
Während die Kinder einen letzten Blick auf das atemberaubend große Schiff warfen, erklang die Pfeife des Zuges ein zweites Mal, diesmal deutlich ungeduldiger. Sie rannten nun so schnell der Sand es ihnen erlaubte zurück, kletterten die kleine Leiter zum Waggon hinauf und ließen sich auf ihre Sitze fallen. Schon ging es hoch in die Luft und weiter ins Innere der Insel.
Sie flogen diesmal ganz langsam durch den dichten Urwald, dessen Lianen und kühle Blätter im sanften Wind flüsterten und wie Smaragde in tausend verschiedenen Nuancen funkelten. Zwischen den Ästen fielen sanfte Sonnenstrahlen auf eine Lichtung und ließen die Wassertropfen aus dem moosigen Boden wie kleine Diamanten glitzern. Der Zug stoppte auf einer Lichtung.
Dieses Mal rief der Zugführer nicht laut, was für ein Traum nun an der Reihe war. Jetzt kam er selbst in das Abteil und sprach leise, fast flüsternd zu den Kindern. „Jetzt müsst ihr leise sein, sonst kommt unser Gast nicht.“
Sie gingen wie in Zeitlupe zu den Fenstern und schauten verwundert hinaus. Niemand sprach ein Wort. Sie versuchten sogar, so flach wie möglich zu atmen, aus Angst, das Etwas zu verscheuchen, was nun kommen würde. Was würde das bloß für ein Wesen sein? Ein Dino? Zwerge?
Auf einmal sahen sie es. Langsam tauchten zwischen den Blättern Umrisse auf. Anfangs nur schemenhaft, dann immer deutlicher, zierlich und schlank. Dann erschien es zwischen Büschen. Ein Einhorn schritt majestätisch auf sie zu, mit schneeweißem Fell und einem langen perlmuttschillernden Horn auf der Stirn. Mehrere Kinder gingen nach draußen. Man konnte ihnen ansehen, dass sie lieber gerannt wären, doch sie wollten dieses wunderschöne Geschöpf nicht erschrecken. Langsam, Schritt für Schritt, näherten sie sich ihm. Das Einhorn ließ zu, dass sie ihre Finger über seinen Rücken gleiten ließen und gemeinsam verschwanden sie zwischen den smaragdenen Wogen des Blättermeeres. Als sie die Kinder und das Einhorn aus den Augen verloren hatten, rief der Zugführer sie zurück. Mit einem Ruck setzte der Zug seine Fahrt fort. Erst langsam, dann immer schneller bewegte er sich vorwärts und schon nach wenigen Metern erhob er sich über die Bäume.
Vor ihnen lag eine große, vom dichten Dschungel bedeckte Berggruppe, die sich über den Großteil der Insel erstreckte. Nur die Gipfel waren frei von Bäumen und man konnte das graue, zerklüftete Gestein erkennen, aus denen sie bestanden. Offenbar waren diese Berge einst Vulkane gewesen, die sich vor Urzeiten mit unbändiger Kraft aus dem Erdinneren an die Oberfläche gekämpft hatten. Nun sahen sie aus, wie schlafende Riesen. Sie glitten über die Bäume hinweg, wie schon zuvor über den Ozean, immer weiter nach oben auf die Gipfel zu. Nach wenigen Minuten wurden sie wieder langsamer. Sie hatten die nächste Station erreicht.
Der Zug landete auf einem Plateau knapp unterhalb des Gipfels und kam zum Stehen. Vor ihnen war eine Höhle. Aus dem schwarzen Schlund aus kaltem feuchtem Gestein drang ein furchteinflößendes Brüllen.
„Wer hat Lust auf einen Ritt durch die Lüfte?“, rief der Zugführer diesmal. Jetzt kam aus der Höhle eine Gestalt heraus. Sie war groß, schuppig und grün. Ihr Kopf war riesig groß und von langen Stacheln gekrönt. Das lippenlose Maul zierte eine Reihe von spitzen Zähnen. Es war ein gigantischer Drache. So gefährlich, wie er aussah, wirkte er dennoch nicht wütend. Eher so, als würde er auf jemanden warten. Was hatte der Zugführer von einem Ritt gesagt? Wartete der Drache auf seinen Reiter? Dieses Mal trauten sich nur wenige Kinder aus dem Zug. Mit vor Verwunderung offenen Mündern bestaunten sie das Tier. Diesmal war es Mo, der vortrat. Er wagte sich ganz nah an es heran. Er streckte seine Hand aus und hielt sie dem Drachen vor die Nase. So, wie man es bei Hunden tut, wenn man ihnen die Möglichkeit geben möchte, an einem zu schnuppern. Alle hielten vor Aufregung den Atem an. Was, wenn der Drache einfach zuschnappen würde? Würde er Mo die Hand abbeißen? Dann schob auch der Drache seine Nase nah vorn und berührte sanft die Hand. Das riesige Tier beugte seinen Kopf zu Boden und der Junge kletterte auf seinen Rücken. Langsam breitete der Drache seine Flügel aus. Die Spannweite musste fast acht Meter betragen. Mit einem Ruck erhob er sich. Mo umklammerte fest die kronenartigen Stacheln am Kopf des Drachen und seine Augen leuchteten voller Vorfreude auf das luftige Abenteuer.
Flup, flup, flup, flup … das Schlagen der Flügel in der Luft war überraschend laut. Zusammen erhoben sich das Tier und sein Reiter jetzt. Der Drache fühlte sich weder warm noch kalt an und die Schuppen waren glatt und geschmeidig, wie die einer Schlange. Mo hatte einmal bei einem Zoobesuch eine anfassen dürfen. Sie stiegen noch ein paar Meter nach oben durch die Wolken, dann ging es geradeaus weiter und direkt in den Sturzflug. Dieses Mal machte das viel mehr Spaß als mit dem Zug. Mo saß ganz vorne und spürte den Wind und die Feuchtigkeit der Wolken direkt in seinem Gesicht. Es war, wie beim Achterbahnfahren, aber viel besser. Sie flogen über die Bäume, zwischen Felsspalten hindurch und über das Meer hinweg. Dann setzte der Drache zum Looping an und Mo wurde mehrere mal im Kreis herumgewirbelt. Danach war ihm ein wenig schwindelig. Nun ging der Drache in einen sanften Gleitflug über und trug Mo wieder sanft zurück zur Höhle.
Als der Junge vom Rücken des Drachen kletterte, fiel ihm der Abschied schwer. Doch der Zug wartete auch schwer. Das war der beste Traum, den er in seinem Leben gehabt hatte. Auf dem Rückweg sammelten sie die anderen Kinder ein. Alle saßen sie mit leuchtenden Augen im Zug, glücklich und müde. Viele der Kinder schliefen schon während der Fahrt ein. Doch Mo war noch zu aufgeregt vom Erlebten. Als der Zug vor seinem Fenster hielt, winkte er allen anderen Kindern zum Abschied zu. Er kletterte in sein Zimmer, kuschelte sich unter die Decke und schlief sofort ein.
Als Mo am nächsten Morgen in die Küche kam, warteten Oma und Opa wie gestern auf ihn. Er setzte sich an den Tisch. Er war noch etwas müde, denn er hatte diese Nacht ja so tolle Dinge erlebt. Die Zeitung ihm gegenüber senkte sich und es erschien Opas riesiges Augenpaar.
„Und? Wie war die Nacht?“, fragte der alte Mann neugierig.
„Hervorragend!“, flüsterte Mo, „Aber ich glaube, ich leg mich nach dem Frühstück nochmal ins Bett.“
„Das klingt nach einem aufregenden Traum!“, kicherte Opa in seinen Kaffee.
„Opa?“, fragte Mo, den Mund nun voller Müsli. „Warst du nun schon einmal im Traumland oder nicht?“
„Wer weiß, wer weiß …“, war wieder die immergleiche Antwort. Da fiel Mo die Fotografie ins Auge. Der Mann neben Opa und die alte Dampflok kamen ihm irgendwie bekannt vor. Nur, dass die Narbe auf der Backe noch nicht von einem dichten Bart überdeckt war.
Trotz aller Müdigkeit strahlten Mos Augen ein weiteres Mal und nun war er es, der Opa schelmisch zuzwinkerte. Und Opa … zwinkerte sogar zurück.