Der magische Garten


Heute war Montag. Ein ganz blöder Montag. Yasin hatte seinen ersten Tag in der neuen Schule, in der kleinen Stadt, in der er jetzt mit seiner Mama und seinem Papa wohnte. Sie waren vor kurzem hierher gezogen, weil Baba hier eine neue Arbeit bekommen hatte. Eigentlich fand er das alles ziemlich doof. Das Haus war alt und roch muffig. Sein Zimmer hatte eine hässliche Oma-Blümchen-Tapete und die noch nicht ausgepackten Kartons stapelten sich überall. Das Haus sah überhaupt nicht neu und schön aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Er vermisste sein altes Zuhause, den schönen Park gleich daneben und natürlich seine Freunde.

Er hatte heute Morgen gar nicht aufstehen wollen. Er hatte sich nicht anziehen wollen und loszugehen war er auch ein schwieriges Thema gewesen. Weil Mama aber immer wieder gesagt hatte, wie nett alle wären und wie toll alles doch sei, hatte er mitgemacht.

Ein kleiner Lichtblick war vor ein paar Tagen das Päckchen von seiner Oma gewesen. Sie hatte ihm Schokolade, selbstgebackene Kekse, einen Teddy und ein Päckchen Kreide eingepackt. Unter den Sachen hatte ein Zettel gelegen mit den Worten „Mal, was du willst! Wenn du daran glaubst, wird es Wirklichkeit!“ Yasin hatte die Worte nicht verstanden. Eigentlich war es ihm auch egal. Er hatte sich über die Kreide gefreut und die Schokolade und Kekse gleich aufgegessen. Seine Oma fehlte ihm sehr. Sie verwöhnte ihn, wenn er bei ihr war. Dann fühlte er sich immer ganz besonders.

Zusammen mit Mama ging er nun widerwillig durch die Straßen, vorbei an hübschen Gärten mit Apfelbäumen, Rutschen und Schaukeln. Er wünschte sich auch sowas, aber sein eigener Garten war noch sehr wild und macht ihm Angst. Mama erzählte fröhlich vor sich hin, von den netten Kindern, den tollen Lehrern und wie wunderbar doch alles wäre. Yasin hatte trotzdem schlechte Laune. Aber was sollte er schon sagen, er wollte sie nicht traurig machen. Gedankenverloren steckte er seine Hand in die Hosentasche. Er spürte etwas. Es war das kleine Päckchen Kreide von Oma. Er hatte es heute Morgen eingesteckt und danach wieder vergessen. Wer weiß, vielleicht konnte er in der Pause damit etwas auf den Schulhof malen.

Nach wenigen Minuten hatten sie die Schule erreicht. Gleich würde der Unterricht beginnen und es warteten schon viele Schüler am Eingang. Die Kinder unterhielten sich, lachten und machten Quatsch. Ein Junge hatte einen Fußball unter dem Arm und ein paar Mädchen blätterten in einem Buch über Einhörner. Das Schulhaus war ein niedriges Gebäude, das sich zwischen großen Büschen versteckte, und erst auf den zweiten Blick offenbarte sich seine Weitläufigkeit. Die Schulglocke bimmelte und alle Schüler strömten hinein. Warm und freundlich schien die Sonne durch große Fenster. An den Wänden leuchteten Bilder und Basteleien in bunten Farben.

Yasin hatte Angst. Was, wenn die Kinder ihn nicht mögen würden? Was, wenn keiner mit ihm reden wollte? Langsam bahnte er sich mit Mama einen Weg durch den Flur. Er hielt ihre Hand ganz fest, als sie vor dem Klassenraum standen. Drinnen hörte er die Kinder erzählen und lachen. Er wollte nach Hause.

„Hallo! Du musst Yasin sein, richtig? Ich bin Frau Sonne, deine Lehrerin!“, begrüßte sie eine kleine rundliche Frau mit den raspelkurzen silber gefärbten Haaren. Sie entblößte in einem breiten Lächeln eine Reihe etwas zu groß geratener aber makelloser Zähne. Irgendwie machte ihm das auch Angst. Dass ihr Name „Frau Sonne“ war, machte die Situation nicht besser.

Yasin sagte nichts. Er wollte nicht.

„Hallo!“, erwiderte Mama aufgeregt, obwohl Frau Sonne ihn angesprochen hatte, und schüttelte ihr ununterbrochen die Hand. Yasin fühlte seine Wangen rot werden. Das war ihm peinlich. „Ja, da sind wir! Das ist Yasin.“

Als Mama endlich Frau Sonnes Arm losgelassen hatte, klatschte diese fröhlich in die Hände. „Dann komm mal rein zu uns. Die anderen freuen sich auch schon.“

So richtig konnte Yasin das nicht glauben. Zögernd stand er immer noch vor dem Raum.

„Du schaffst das mein Großer! Wenn die Schule vorbei ist, warte ich vor dem Eingang auf dich.“ Mama verabschiedete sich und dann war sie auch schon weg.

Es war nun ruhiger geworden im Klassenraum und alle Kinder saßen auf ihren Stühlen.

„Guten Morgen, ihr Lieben!“, begrüßte Frau Sonne die Klasse. Die Kinder antworteten gelangweilt im Chor. „Das ist Yasin.“, fuhr sie fort, „Er ist neu in unserer Klasse. Bitte kümmert euch ein wenig um ihn! Yasin, setzt dich doch dort auf den freien Platz neben Milan!“  

Yasin setzte sich auf seinen Platz neben einen kleinen zierlichen Jungen mit einem voluminösen kastanienbraunen Lockenkopf. Der Junge malte gerade mit Buntstiften einen roten Roboter mit blauen Drehknöpfen auf dem Bauch. Der Junge blickte auf und schaute Yasin einen Moment lang schweigend an. Das war also Milan. Er sah traurig aus. Reden wollte Yasin mit ihm aber trotzdem nicht.

Frau Sonne nahm sich einen Hocker und setzte sich neben ihn.

„So, mein Lieber, erzähl doch was über dich. Was magst du denn so? Was spielt du denn gern?“

Yasin wollte nichts sagen. Er schüttelte nur den Kopf.

Sie lachte mit einem Gluckern, als ob viele Murmeln eine Treppe hinunterkullern würden. „Kein Problem! Alles hat seine Zeit! Soll ich dir mal unsere Schule zeigen?“

Er schüttelte den Kopf. Nein, sollte sie nicht.

Yasin betrachtete die bunten Kindermalereien an den Wänden, die gebastelten Fensterbilder und die Buchstaben- und Zahlentafeln. Aus seinem Mund kam die ganze Stunde lang kein Ton. Die Pause verbrachte er allein unter einem großen Baum auf dem Pausenhof. Um ihn herum spielten die Kinder. Er wollte hier nicht sein.

Aber dann musste er mal auf die Toilette. Gleich neben dem Waschraum gab es eine Treppe, die in den Keller führte. Dort unten fielen durch kleine schmutzige Fenster dünne Lichtstrahlen in den Flur. Es war dort zwar staubig aber nicht zu dunkel. Yasin überlegte kurz. Jetzt wird’s interessant, dachte er sich. Er schaute nach links. Er schaute nach rechts. Keiner da. Alle waren gerade draußen auf dem Hof. Ab geht’s, schnell nach unten, bevor jemand vorbei kommt. Da durfte er bestimmt nicht hin. Das war cool!

Zügig aber vorsichtig stieg er die Treppe hinunter und bog schnell um die Ecke, damit ihn von oben niemand mehr sehen konnte. Hier gab es keine Kindermalereien mehr. Der Flur war lang und es roch ein bisschen muffig. Schritt für Schritt ging Yasin weiter. Das Gefühl in seinem Bauch war komisch und aufregend zugleich. Ein bisschen so, als hätte er zu viel Brausepulver gegessen. Die vielen Türen zu seiner Rechten waren geschlossen, nur die letzte war ein Spalt weit offen. Was da wohl drin war?

Er öffnete die Tür weiter. Noch ein Stückchen, noch ein Stückchen. Dort drinnen war … nichts. Nur Staub und Dunkelheit.  Yasin knipste das Licht an. Jetzt schaute er in einen leeren Raum. Was könnte man hier wohl alles Cooles anstellen? Auf einmal fiel ihm die Kreide in seiner Hosentasche ein.

Es war, als ob eine fremde Kraft seine Hand führen würde. Langsam holte er ein Stück grüne Kreide aus der Schachtel und führte sie an der Wand. Natürlich wusste er, dass man das nicht darf.

Beim ersten Strich zwickte das schlechte Gewissen noch ein wenig, aber das war bald verflogen. Mit langen Strichen malte er einen langen grünen Grashalm, der ihm bis über den Kopf reichte. Daneben malte er noch einen zweiten und daneben noch einen. So lange, bis er die ganze Wand mit großen breiten Grashalmen verziert hatte. Dazu malte er mit einem anderen Grün Schattierungen und Blätter, sodass der kleine Raum in den unterschiedlichsten Grüntönen schimmerte. Ein bisschen, wie eine magische grüne Höhle. Das Schimmern wirkte beruhigend und freundlich. Der Duft von frischem Gras, Äpfeln und Erde stieg in seine Nase. Es war, als wäre das dort an der Wand wie ein echter Garten. Aber nein, es war nicht nur wie reales Gras, es war echt. Kleine Käfer krabbelten über den Boden und Bienen schwirrten durch die Luft. Yasin strich mit seiner Hand über die Halme. Sie fühlten sich kühl an. Wie normales Gras, nur größer. Dahinter war aber keine Wand, sondern es ging noch weiter. Er schob die Halme auseinander und lief zwischen riesigen Gräsern, Blumenstielen, Farnen und Steinen umher. Plötzlich sah er vor sich etwas Buntes.  Je näher er kam, desto klarer erkannte er ein kleines Häuschen. Niedlich sah es aus, wie ein Pilz, aber es war aus Lehm und Stroh gebaut. Blaue kleine Fensterchen hatte es und ein knallrotes Dach. Neugierig starrte Yasin die kleine Hütte an. Mit einem lauten Knarren öffnete sich plötzlich die Tür und im Rahmen stand ein großer flauschiger Bart mit dünnen Beinchen. Verwundert starrte Yasin den riesigen laufenden Bart an. Das überdimensionierte Haarbüschel räusperte sich. Es war offensichtlich ein kleines Männlein. Bei näherem Hinsehen sah man außer den vielen Haaren noch eine grüne Mütze, eine braune Jacke und eine blaue Hose. Seine Füße steckten in braunen Schuhen. Er hatte kleine Augen unter sehr buschigen Augenbrauen und eine kleine knollige Kartoffelnase. Einen Mund konnte man nur erahnen.

„Hallo, bewunderst du mein Häuschen? Es ist ganz nett oder? Ich müsste nur mal wieder die Tür ölen!“, stellte das Männlein mit brummiger Stimme fest.

„Ja, es ist wirklich hübsch.“, antwortete Yasin. Eigentlich sollte er nicht mit fremden Leuten reden. Das sagte Mama immer wieder. Der kleine Mann wirkte nett, aber ein wenig Angst machte er dem kleinen Jungen trotzdem. Der Zwerg hatte das anscheinend bemerkt.

„Keine Sorge!“, brummt er rasch weiter und lachte dabei, „Ich tu dir nichts! Ich freue mich sehr über Besuch. Es war schon lange keiner mehr hier. Zuletzt hatte mich mal ein kleines Mädchen besucht, aber das ist nun bestimmt schon um die sechzig Jahre her. Sie war sehr nett, weißt du?“.

Nein, das wusste Yasin natürlich nicht. Woher auch?

„Wenn du schon in meinen Garten gelangt bist, muss ich annehmen, dass du in deiner Menschenwelt gerade nicht sehr glücklich bist. Liege ich da richtig?“

Yasin nickte. „Woher wissen sie das?“

„Nun … das ist kein normaler Garten und ich bin dementsprechend auch kein normaler Zwerg.“, antwortete der kleine Mann mit einem Schmunzeln und ließ sich auf der Schwelle seines Hauses nieder. „Nun erzähl mal! Was ist los?“

Yasin setzte sich auf den Boden „Ich finde es doof hier! Keiner hat mich gefragt, ob ich umziehen will! Das Haus ist nicht schön. Da riecht alles komisch. Die Schule gefällt mir auch nicht und die Kinder sind komisch! Ich vermisse meine Freunde.“ Yasin kamen die Tränen. Er war die ganze Zeit wütend gewesen, aber jetzt fühlte er die ganze Wut einfach aus sich hinauslaufen.

„Oh, das klingt, als hättest du eine echt harte Zeit!“, antwortete der Zwerg nickend. „Das stimmt leider, dass Kinder bei sowas oft gar nicht gefragt werden. Aber deine Eltern hatten sicherlich ihre Gründe, hierher zu ziehen. Sie müssen ja Geld verdienen, damit ihr Essen und Trinken, saubere Kleidung und ein Zuhause habt.“

„Ich weiß ja.“, murmelte Yasin. „Ich finde das aber unfair!“

„Hmmmm …,“, brummte der Zwerg, „das verstehe ich gut. Übrigens, ich heiße Pippin und du?“

„Ich heiße Yasin.“

Sie saßen noch eine Weile da und redeten sehr viel. Eigentlich redete meistens nur Yasin und der Zwerg hörte zu. Als die Glocke ertönte, musste sich Yasin verabschieden und lief schnell wieder zurück zu seinem Platz. Er fühlte sich schon ein wenig besser.

Am nächsten Tag kam er wieder zu Pippin. Wieder sprachen sie viel miteinander und der Zwerg zeigte ihm stolz seinen riesigen Gemüsegarten. Dort wuchsen Tomaten, so groß wie Fußbälle und Gurken, die so lang und dick waren, wie Babas Beine.

Auch am dritten Tag ging Yasin zu seinem Freund. Dieser lächelte, wie immer, doch diesmal sah der kleine Mann auch ein wenig ernst aus. „Hallo, mein Freund!“, begrüßte Pippin den Jungen, „Willst du einen lecker Apfel haben? Er ist sehr saftig und süß!“ Yasin nickte. Pippin reichte ihm einen großen roten Apfel. Yasin biss hinein. Der Apfel war wirklich sehr saftig und lecker.

„Sag mal, mein Junge, ich freue mich wirklich, wenn du mich besuchst. Aber willst du es nicht vielleicht einfach mal versuchen mit den anderen Kindern? Vielleicht sind sie ja doch ganz nett. Frag doch mal deinen Tischnachbarn. Vielleicht ist er auch mit irgendetwas nicht zufrieden. Und zu zweit traurig zu sein ist leichter, als ganz allein. Ein Junge in deinem Alter sollte nicht die gesamte Zeit mit einem alten Zwerg verbringen. Willst du das mal versuchen?“

Der Junge an seinem Tisch hatte die letzten Tage wirklich nicht fröhlich ausgesehen, überlegte Yasin. „Naja … ich kann es mal probieren!“, gab er zu.

Wieder drang aus weiter Ferne das Schulklingeln an sein Ohr. Yasin musste wieder zurück, sonst würde seine Abwesenheit auffallen.

Milan sah heute wieder traurig aus. „Hey.“, sagte Yasin. „Alles gut bei dir? Du siehst immer traurig aus.“ „Bin ich auch.“, antwortete der Junge, „Mein Hund ist krank.“

„Oh je, das tut mir Leid!“ Es tat Yasin wirklich leid. Er hatte gedacht, der Junge könnte ihn nicht leiden. Er hatte ihm Unrecht getan. Yasin hatte oft seinem Opa dabei zugesehen, wie er sich um Tiere kümmerte. Dieser war nämlich Tierarzt gewesen. Vielleicht konnte er Milan ja irgendwie helfen.

„Wollen wir uns zusammen um ihn kümmern? Mein Opa war Tierarzt.“, meinte er vorsichtig.

Der Junge schaute ihn mit immer noch traurigen aber nun ein wenig hoffnungsvolleren Augen an. „Ja? Das wäre toll! Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann! Kommst du heute nach der Schule mit zu mir?“

„Klar, kein Problem!“

Da habe ich aber schnell einen neuen Freund gefunden, dachte sich Yasin. Pippin hatte Recht gehabt. Er fühlte sich jetzt nicht mehr ganz so einsam und das Wissen, Milan helfen zu können, tat ihm gut.

Zusammen kümmerten sich sich am Nachmittag um den Hund. Sie konnten nicht herausfinden, was für ein Problem er hatte und brachten ihn zum Tierarzt. Der erklärte, dass der Hund einfach sehr alt war. Für Milan war das natürlich trotzdem traurig und Yasin war deswegen ebenfalls sehr betrübt.

Am nächsten Tag wollte Yasin noch ein letztes Mal zu Pippin gehen. Als er allerdings den Raum betrat, war der Garten verschwunden. Nirgends war auch nur ein kleiner Grashalm zu sehen. Die Wand war weiß wie zuvor. Ein bisschen war er enttäuscht, aber irgendwie war er auch froh. Er hatte heute nämlich schon Milan versprochen, dass sie zusammen in der Pause spielen würden. Mit einem guten Gewissen ging wieder nach oben.

Er und Milan hatten eine sehr schöne Pause.


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