Atempause

Graues Pflaster in Großstadt

An einem grauen Januartag lag die noch grauere Stadt in dem allergrausten Wetter. Der nasskalte Wind sauste durch die Häuserschluchten und drang durch alle Ritzen und Kleidernähte bis auf die Knochen.

Es war nicht kalt genug für Schnee, welcher mit seinem Winterzauber die hässlichen Nachkriegsbetonklötze hätte schmücken können. Allerdings ließ sich auch kein einziger Sonnenstrahl blicken, welcher die Menschen und die Häuser zumindest etwas hätte umschmeicheln können.

Die Sonne schien an diesem Nachmittag keine Lust zu haben, sich auch nur für einen kurzen Moment blicken zu lassen. Dunkle Wolken huschten über den Himmel und spiegelten sich in den Pfützen auf dem Marktplatz, welcher seinem Namen eigentlich nie gerecht wurde, es fand praktische nie ein Markt darauf statt. Er war viel zu groß geraten für diese kleine Stadt. Kahl und platt wurde er umsäumt von leeren Geschäften und Gebäuden, welche langsam baufällig wurden, sowie einem riesigen Betonbollwerk namens Rathaus.

Die Menschen hasteten an jenem nasskalten Tag schnellstmöglich von Tür zu Tür, draußen war es einfach zu ungemütlich. Sie erledigten nur das Allernötigste und ließen die Straßen verwaist zurück. Das Hupen und Brummen der Autos und das Zischen, wenn sie durch Pfützen oder über nasse Straßen fuhren, bildeten die einzige Geräuschkulisse.

Isabelle war todmüde. Ihr Freund hatte sie und ihren 4-jährigen Sohn Marek vor kurzem wegen einer Anderen verlassen und nun war sie auf sich allein gestellt. War sie nicht nur wegen diesem Trottel in diese trostlose Stadt gezogen? Hatte Freunde, Familie und einen guten Job hinter sich gelassen?

Während sie mit dem Kind an der Hand erschöpft vom Arbeitstag nicht weniger zügig als alle anderen auf die Bushaltestelle auf der anderen Seite des Platzes zu eilte und eigentlich nur nach Hause wollte, registrierte ihr übermüdetes Gehirn eine Melodie. Sie blickte in Richtung der Töne und zog erstaunt die schmalen Augenbrauen hoch. Mitten auf dem Platz hatte jemand einen Flügel aufgestellt. Dahinter saß ein schmaler junger Mann in einem abgetragenen und viel zu großen grünen Parker und spielte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Der Wind spielte mit den braunen Locken, welche das feingeschnittene Gesicht mit der scharfen Adlernase umrahmten, blies sie ihm unaufhörlich ins Gesicht, doch er schien keine Notiz davon zu nehmen.

Die Melodie war einfach, unkompliziert, leicht, verträumt und er spielte, als wäre er in Gedanken meilenweit entfernt. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit.

Isabelle blieb stehen und lauschte, wie mittlerweile auch einige andere Passanten. Mit einem Mal schien der Wind mit dem Zerren aufgehört zu haben und die Kälte biss sich ein bisschen weniger durch die Kleiderschichten. Marek, der eben noch gequengelt hatte, weil er unbedingt einen Lolli haben wollte, wurde auf einmal ganz ruhig. Seine Mutter nahm ihn auf den Arm und zusammen standen sie da, lauschten und kuschelten sich aneinander.

Mehr Menschen blieben stehen, lauschten und staunten, fotografierten nicht einmal mit dem Handy, wie es die Menschen immer tun, wenn sie etwas Außergewöhnliches sehen. Sie standen da, rührten sich nicht, sprachen nicht, lauschten nur.

Der junge Mann spielte die Melodie in einer Endlosschleife immer wieder. Immer wieder die gleiche Tonfolge und die gleichen Akkorde. Immer wieder auf die gleiche leichte Art und Weise aber niemand ging weg. Wie ein Zauberer hatte er scheinbar die Zeit angehalten. Die Leute schienen sich nur zu gern in dieser Blase der Zeitlosigkeit gefangen halten zu lassen.

Isabelle merkte plötzlich wie sie für ein paar Minuten den Abendmarathon vergessen hatte, den sie noch vor sich hatte und wie sie plötzlich ruhig und tief atmete, als hätte sie den gesamten Tag die Luft angehalten. Ihr gesamter Tag war ein Dauerlauf, 05:30 Uhr aufstehen, von Zuhause zur Kita, zur Vollzeitstelle, zurück zur Kita, vielleicht noch Einkaufen, nach Hause, dann Abendessen, Kind ins Bett, nebenbei den Haushalt erledigen und zum Schluss wieder erschöpft ins Bett fallen. Aber jetzt stand sie und genoss jeden einzelnen Atemzug.

Den Menschen um sie herum schien es ähnlich zu gehen. Ganz verträumt starrten sie ins Leere, in die Wolken, auf den Boden. Irgendwann hörte der junge Mann auf zu spielen, er beendete die letzten Klänge und die Menschen erwachten aus ihrer Trance. Einen Moment herrschte Stelle, als müsste das Publikum seine Orientierung erst wieder finden. Danach begann zögerlich der Beifall und wollte gar nicht mehr aufhören. Es war kein tosender Applaus, eher ein ehrfürchtiges aber ehrliches und ein wenig wehmütiges Klatschen.

Marek war auch die ganze Zeit still geblieben, was für den kleinen Zappelphilipp ungewöhnlich war. Isabelle drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, welche der Junge in das kleine Körbchen auf dem Flügel legen durfte. Der Mann bedankte sich mit einem freundlichen Zwinkern aus großen braunen Augen, in die sich Isabelle in jüngeren Jahren sicher gern verliebt hätte.

Die beiden gingen weiter und die riesigen Betonklötze schienen nun irgendwie weniger erschlagend, das Grau des Himmels sanfter und der Wind weniger schneidend. Isabelle atmete weiter und ließ die Ruhe des Moments bis in ihre Fingerspitzen fließen. Das Erlebnis auf dem Marktplatz hatte nicht länger als fünf Minuten gedauert doch es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.

Zu Hause angekommen hielt sich die Ruhe immer noch in ihrem Körper und sie entschloss sich, heute Abend nicht mehr aufzuräumen, nichts mehr zu bügeln und auf keinen Fall den Laptop nochmal anzuschalten. Nach dem Abendessen kuschelte sie sich gleich mit Marek ins Bett und sie erzählten sich Geschichten, bis sie beide zufrieden einschliefen.


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